Die Corona-Pandemie ist Anfang 2023 nicht zu Ende. Im Januar starben allein in Deutschland im Durchschnitt jeden Tag 150 Menschen an einer Corona-Infektion. Aufgrund des erwartbaren und vorhergesagten Auftauchens immer neuer (Omikron-)Varianten, wie „Cerberus“ (BQ.1.1), „Chiron“ (BA.2.75.2) oder „Krake“ (XBB.1.5), die deutlich ansteckender sind als die vorherigen Varianten wie BA.4/BA.5, sind neue heftige Infektionswellen im Laufe des Jahres weiterhin möglich, an denen auch hierzulande wieder Tausende von Menschen sterben können. Angesichts der aktuellen diskursiven und politischen Konstellationen scheint ein Eintreten für eine Niedriginzidenzpolitik allerdings momentan aussichtslos. Nichtsdestotrotz ist es aus emanzipatorischer und solidarischer Perspektive geboten, weiterhin kritisch in die herrschende Pandemiepolitik zu intervenieren. Linke Politik ist gefordert, sich nicht abzufinden mit dem Sterben-Lassen und der Verschiebung gesellschaftlich produzierten Leids in den privaten Bereich.
Mit diesem Text möchten wir dazu aufrufen das Thema Corona nicht ad acta zu legen. Wir glauben, dass es weiterhin Aufgabe linker Politik ist sich für solidarische Eindämmungs- und Schutzmaßnahmen zur Minderung des Infektionsrisikos einzusetzen ebenso wie für die bestmögliche Versorgung und Rehabilitation von Erkrankten und Long-Covid-Patient*innen. Darüber hinaus ist es uns ebenso wichtig, uns kritisch mit den zurückliegenden Pandemiejahren zu beschäftigen, um zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung beizutragen bzw. diese einzufordern. Dabei geht es auch um das Mitdenken von (unterschiedlichen) Formen und Graden von Verletzbarkeit sowie eines grundlegenden Aufeinanderangewiesen-Seins und die Notwendigkeit von Solidarität und Rücksicht. Und es geht um das Erinnern an Krankheit, Leid und Tod. Dieser Beitrag ist ein Arbeitstext, kein abgeschlossenes Statement.[1] Kritik und Ergänzungen zu unseren Überlegungen sind sehr willkommen!
Versäumte Eindämmung und rechte Mobilisierung – Rückblick
Von Beginn der Pandemie bis Ende 2022 sind weltweit bereits über 6,5 Millionen Menschen an einer Corona-Infektion gestorben. In Deutschland sind es über 150.000. Diese Todesfälle wären wahrscheinlich zum großen Teil vermeidbar gewesen, wenn von Beginn an konsequente und solidarische Eindämmungsmaßnahmen umgesetzt worden wären. Die relativierende Rede davon, dass die meisten Corona-Toten sogenannte Vorerkrankungen hatten oder dass sie schon alt waren, ist nichts als Teil der menschenverachtenden Diskurse, die die Pandemie begleiten. Die in Deutschland politisch Verantwortlichen in Bundesregierung und Landesregierungen haben nie die Bereitschaft gezeigt, die Pandemie auf effektive Weise einzudämmen. Dies hätte nämlich für einen gewissen Zeitraum eine konsequente Einschränkung vieler nicht zwingend erforderlicher Wirtschaftstätigkeiten bedeutet und somit die Profite der Konzerne kurzfristig geschmälert. Alle in Deutschland bestehenden Regierungskoalitionen haben das Recht auf Gesundheit sowie körperliche und psychische Unversehrtheit der Bevölkerung den (zumindest angenommenen) Interessen der (großen) Unternehmen und damit mittelbar den Interessen der Reichen untergeordnet. Die Regierungen waren zugleich sehr schnell um eine möglichst baldige „Rückkehr zur Normalität“ bemüht, so dass es etwa ab Mai/Juni 2020 vor allem ums „Lockern“ ging. Wenngleich diese Bemühungen sicher nicht immer eins zu eins den Interessen von Konzernen und Reichen entsprachen, so hingen sie jedoch herrschaftstheoretisch betrachtet mit der im Kapitalismus notwendig gegebenen Funktion von Regierungen zusammen, die mehrheitliche Zustimmung zu bzw. das Hinnehmen von gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zu gefährden. – Obgleich sich diese Verhältnisse durch massive materielle Ungleichheit, vielfältige Diskriminierungsverhältnisse und wenig Optionen auf ein selbstbestimmtes und solidarisches Leben auszeichnen.
Gleichzeitig hat sich unter dem Label „Querdenken“ eine rechte Massenbewegung etabliert, in der sich Neonazis, Esoteriker*innen und Verschwörungsgläubige vereinigt und phasenweise starken Einfluss auf politische Entscheidungsträger*innen ausgeübt haben. In der Hoffnung einen Ausweg aus der bedrückenden Corona-Situation zu finden, wurde diese Bewegung von vielen Leuten unterstützt, die zwar stets behaupten, keine Nazis zu sein, aber auf sozialdarwinistische und menschenverachtende Weise das Sterben und das Leid, das das Virus bzw. die Nicht-Eindämmung der Pandemie verursachen, in Kauf nehmen, relativieren und für normal erklären. In Bremen ist es im Winter 2021/2022 immerhin gelungen den Rechten den öffentlichen Raum auf der Straße, vor allem im Zentrum der Stadt, zu nehmen.
Seit Frühjahr 2022 haben die staatlichen Akteur*innen in Deutschland die Kontrolle über das Pandemiegeschehen nahezu aufgegeben. Kontakte von Infizierten wurden angesichts der hohen Inzidenz nur noch eingeschränkt nachverfolgt und Testkapazitäten zurückgebaut. Zwar ist die seit dem dritten Pandemiejahr dominante Omikron-Variante insofern weniger gefährlich, dass im Verhältnis zu Delta ein geringerer Anteil der Gesamtzahl der Infektionen zu einem schweren Krankheitsverlauf führt. Doch dafür verbreitete sich das Virus seit Ende 2021 so stark wie nie zuvor und jede Untervariante, die sich durchsetzt, ist notwendigerweise ansteckender als ihre Vorgängerinnen. Unzählige Menschen haben sich infiziert, sehr viele sind erkrankt und nicht wenige auch schwer – häufig trotz doppelter oder dreifacher Impfung. Das Sterben-Lassen ist das ganze Jahr 2022 lang weitergegangen. Viele Leute infizieren sich zudem mehrfach hintereinander mit den Omikron-Varianten und erkranken auch mehrfach. Der letztlich auf einem biologistischen Ideal der Abhärtung aufbauende Mythos, dass man die Erkrankung nur mal „durchmachen“ müsse, um danach immun zu sein, bewahrheitet sich nicht. Im Gegenteil steigt das Risiko schwerer Krankheitsverläufe sogar mit der Häufigkeit der Wiederansteckung.[2] Zahlreiche Menschen leiden zudem an Langzeitfolgen wie Long Covid. Insbesondere mit Blick auf die Schulen und den Kita-Bereich erleben wir seit dem Winter 2021/2022 eine mehr oder weniger offene Durchseuchungsstrategie. Nachdem die Kinder und Jugendlichen zuvor zwei Jahre lang ihr Freizeit- und Privatleben drastisch einschränken mussten, wurde ihnen die Infektion in der Schule geradezu aufgezwungen.
Verletzbarkeit (Vulnerabilität) und soziale Ungleichheit
Trotz des Grassierens einer potenziell tödlichen Krankheit, auf deren Eindämmung und den Schutz vor Infektion zu verzichten, bedeutet Krankheit und Tod billigend in Kauf zu nehmen. Linke Politik muss sich dem weiterhin entschieden entgegenstellen. Im Gegensatz zu der Ausrichtung der staatlichen Eindämmungsmaßnahmen in den Jahren 2020/2021 muss es linker Pandemiepolitik jedoch darum gehen (auch im Rückblick) genau zu berücksichtigen, wer wie von der Pandemie und ihrer Eindämmung betroffen war und ist. Denn die Verbreitung der Krankheit, die Schwere und der Verlauf der Krankheit treffen nicht alle Menschen gleich. Es erkranken und es sterben überproportional viele Menschen, die von Armut, prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen und/oder von Rassismus betroffen sind. Von Krankheit und Tod sind besonders auch Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen bedroht. In der kapitalistischen Klassengesellschaft, die von vielfältigen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen wie Rassismus und einem patriarchalen Geschlechterverhältnis durchzogen ist, bestehen vielfältige Formen von Verletzbarkeit. Das Infektionsrisiko ist bspw. für arme Menschen in beengten Wohnsituationen und prekären Arbeitssituationen ohne Homeoffice-Option und für Geflüchtete, die gezwungen werden in Sammelunterkünften mit mangelnden Rückzugs- und Selbstschutzmöglichkeiten zu leben, sehr viel höher als für Leute, auf die all dies nicht zutrifft. Und für alte Menschen sowie Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen ist die mit einer Corona-Infektion verbundene Gefahr sehr viel höher als für andere.
Ebenso wie die Verbreitung und die Gefährlichkeit der Krankheit trafen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen der Regierungen 2020/2021 nicht alle Menschen gleich. Aus einer gehobenen beruflichen Situation heraus, ließ es sich gut im Einfamilienhaus mit Garten und Homeoffice einrichten. Arme und prekarisierte Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben, Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen, Menschen mit Behinderung sowie Geflüchtete in Lagern waren von den Maßnahmen dagegen sehr einschneidend betroffen. Kindern und Jugendlichen wurden über den langen Zeitraum hinweg wichtige Entfaltungsmöglichkeiten genommen. Auch FLINTA (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans- und a-gender Personen) sind im Durchschnitt aufgrund ihrer häufigeren beruflichen Tätigkeit in Sozial-, Pflege- und Bildungsbereichen und dadurch, dass sie auch privat sehr viel häufiger pflegende und sorgende Aufgaben übernehmen, dem Infektionsrisiko stärker ausgesetzt als cis Männer („cis“ bedeutet, dass man sich mit dem von außen zugeschriebenen Geschlecht identifiziert).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Abschaffung von Schutzvorkehrungen wie Kontaktbeschränkungen und die Test- und Maskenpflicht, die manche als Zugewinn von „Freiheit“ wahrnehmen, für andere als das Gegenteil dar. Einmal mehr zeigt sich, dass „Freiheit“ nicht als ein ‚Ding‘ an sich existiert, das unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext auf einer Skala von mehr oder weniger „Freiheit“ gemessen oder bewertet werden könnte.
Was bedeutet die „Rückkehr zur Normalität“ vor diesem Hintergrund? Wie „normal“ ist es, dass jeden Tag Menschen an Corona sterben und immer mehr an Long Covid leiden? Als wie normal wollen wir dies erleben? Welche Vorstellung von Normalität, wessen Normalität ist für wen und warum eigentlich wünschenswert? Der Ruf nach Normalität entpuppt sich in vielen Fällen eher als das Kampfgeschrei derjenigen, die aus einer Position der (vermeintlich bedrohten) Privilegierung (und teilweise vor allem in Bezug auf materielle Ungleichheit eher wohl nur aus der Identifikation mit einer privilegierten Position) heraus nicht bereit sind, Rücksicht zu nehmen auf diejenigen, die auf Schutz und Solidarität aufgrund von hoher Vulnerabilität angewiesen sind oder die sich schlicht nicht dem Infektionsrisiko aussetzen wollen. Die Forderung nach „Freiheit“ und einer „Rückkehr zur Normalität“ verbindet hier breite gesellschaftliche Kreise von AFD und Querdenken über den FDP/Grünen-Anhang bis hin zu linksliberalen und alternativen Milieus. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei der hier zurückgeforderten Vergangenheit doch auch ganz allgemein um zurückersehnte Zeiten zu handeln scheint, in denen Rücksichtnahme, Solidarität, Achtsamkeit und Awareness einen noch geringeren Stellenwert hatten als heute. Vielen in diesen Kreisen geht es ganz offenbar um ein Zurück in die Ära der Schwulenwitze, der rassistischen Kinderbücher und des offenen Sexismus. Ganz ohne Maske und Tempolimit möchten diese Leute in ihrem reaktionären „Deutschland, aber normal“ „mit dem Virus leben“ – und sterben. In der Aufgeladenheit und Aggressivität rund um die Corona-Diskussionen symbolisieren und verdichten sich größere gesellschaftliche Debatten zu umkämpften progressiven Wandlungsprozessen.
Solidarische Eindämmung – die Leerstelle einer linken Pandemiepolitik
Wie kann diese gesellschaftliche Krise, die auch eine Krise linker Strategie und Praxis ist, aus einer emanzipatorischen Perspektive benannt und bearbeitet werden – bzw. rückblickend aufgearbeitet werden? Viele Stimmen aus der gesellschaftlichen Linken tun sich seit Beginn der Pandemie vor allem durch eine Analyse der staatlichen Pandemiepolitik hervor, in der diese als „autoritär“ kritisiert wird. Aber wie stellt sich das Verhältnis von Freiheit und Solidarität sowie von Autoritarismus und Verantwortung in der Pandemie eigentlich dar? Kann die Markierung „antiautoritär“ in einer gesellschaftlichen Krisensituation, in der (vor allem) die (alte, arme, prekarisierte, rassifizierte, be_hinderte) Bevölkerung von Krankheit und Tod bedroht ist, sinnvoll gedacht werden, wenn die Ablehnung staatlicher Maßnahmen nicht zugleich mit kollektiver und demokratischer Verantwortungsübernahme einhergeht?
In Anbetracht des Sterben-Lassens und der Defacto-Durchseuchungspolitik der Regierungen reicht es für linke Politik nicht aus, sich darauf zu beschränken den rechten Schwurbler*innen und Querdenker*innen den Weg zu verstellen. Und es ist auch nicht allein damit getan, den autoritären und repressiven Charakter der staatlichen Maßnahmen und deren Ungleichheit und Diskriminierung verstärkende Effekte zu kritisieren.[3] Notwendig ist gegenüber der herrschenden Pandemiepolitik eine laute Kritik, die in eine eigenständige solidarische Strategie einmündet. Das unnötige Leid gefährdeter Menschen und der vermeidbare Tod vieler muss dabei zum Ausgangspunkt unserer Kritik und praktischen Politik werden. Wir haben es mit einer gesellschaftlichen Krise zu tun, die noch immer anhält und die mit der Dauerkrise der kapitalistischen Gesellschaft und ihres profitgesteuerten Gesundheitssystems untrennbar verquickt ist. Linke Politik muss auch in der Pandemie in die menschenverachtende Krisenbearbeitung der staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteur*innen intervenieren, um emanzipatorische Perspektiven zu eröffnen.
In den zurückliegenden Pandemiejahren hätte es solidarisch ausgerichtete Eindämmungsmaßnahmen gebraucht, um die Pandemie tatsächlich einzudämmen – anstatt sie einfach nur für beendet zu erklären und damit das unnötige Weiter-Sterben und die vermeidbare Long Covid-Welle im profitgesteuerten Gesundheitssystem zu ignorieren. Eindämmungsmaßnahmen müssten solidarisch und unter demokratischer Mitwirkung aller Betroffenen gestaltet werden. Solidarische Eindämmung würde sich an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und den Umsetzungsideen der Armen und Verletzlichen in dieser Gesellschaft ausrichten, damit das Leben der Menschen geschützt wird und auch während der Eindämmungsphase für alle erträglich bleibt.[2]
Niedriginzidenzstrategie statt Durchseuchung
Eine auf wissenschaftlicher Grundlage basierende Niedriginzidenzstrategie macht es sich in einer Pandemie zum Ziel, Infektionsketten zu unterbrechen, jeden Kontakt nachzuverfolgen und die Verbreitung des Virus auf diese Weise einzudämmen. Das ist nur möglich, indem zu Beginn über einen bestimmten Zeitraum die Kontakte aller Menschen auf ein notwendiges Minimum beschränkt werden. Das bedeutet aber gerade nicht, dass für immer Lockdown sein muss. Kontakte müssen nicht endlos, sondern effektiv beschränkt werden; und zwar dort am stärksten, wo es für die meisten Menschen am wenigsten Schaden anrichtet: im Bereich der Arbeitswelt. Doch das Arbeitsleben wurde in Deutschland zu keinem Zeitpunkt umfassend heruntergefahren. Die Corona-Maßnahmen der Regierung bezogen sich zum allergrößten Teil auf das Leben nach Feierabend, auf den privaten Bereich, auf unser kulturelles und soziales Leben. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Industrieproduktion von Autos oder Waffen stillgelegt, niemals wurden Schlachtfabriken oder Logistikzentren geschlossen. Jedoch hätte ein solidarischer und effektiver Shutdown die Pandemie zu Beginn wahrscheinlich in einer kurzen Zeitspanne eindämmen können. Die Impfkampagne wäre dabei gerade keine Alternative zur Eindämmungsstrategie, sondern ihre notwendige und komplementäre Ergänzung. Das im Jahr 2020 erfolgte Vorgehen sehr unterschiedlicher Länder wie Neuseeland oder Südkorea, zeigt, dass eine effektive Eindämmung durchaus möglich ist. In Neuseeland gab es etwa in den ersten anderthalb Jahren der Pandemie weniger als 30 Coronatote insgesamt, während in Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits über 95.000 Menschen gestorben waren.[3] Doch im Unterschied zu den meisten Maßnahmen in den genannten Ländern setzen wir uns für eine Niedriginzidenzstrategie ein, die solidarisch und demokratisch gestaltet wird.[4] Seit Herbst 2020 forderten dies viele Wissenschaftler*innen und zahlreiche Aktive aus sozialen Bewegungen wie etwa die Initiative Zero Covid. Nur durch eine effektive Kontrolle über das Infektionsgeschehen ist Eindämmung möglich. Nur so können immer neue Virus-Mutationen und viele weitere Todesfälle verhindert werden. Nur so würden auch besonders gefährdete und vulnerable Menschen in einem absehbaren Zeitraum an Freiheit gewinnen.
Für eine globale Gesundheitspolitik
Pandemieeindämmung kann nur in einer globalen Perspektive und Koordination gelingen, darauf verweist die WHO von Beginn an. Grundlage wäre eine an Bedürfnissen der Menschen weltweit ausgerichtete Gesundheitspolitik, die alle notwendigen Mittel, die es braucht, dort zur Verfügung stellt, wo sie fehlen. Der erste wichtige Schritt dorthin ist die sofortige Aufhebung aller Patente auf Impfstoffe und Medikamente. Die Ampel-Bundesregierung jedoch setzt den Kurs fort, dass lebenswichtige Güter profitorientiert anstatt bedarfsgerecht und in öffentlicher Verantwortung hergestellt und nicht verteilt, sondern verkauft werden. Insbesondere Wirtschaftsminister und Vize-Kanzler Habeck und die Grünen sind der Bewegung für die Freigabe der Patente und damit den Armen im Globalen Süden durch einen menschenverachtenden Kurswechsel im Frühjahr 2022 in den Rücken gefallen.[5] Vorgeschoben wird die neoliberale Ideologie von angeblich schädlichen „Markteingriffen“, während zugleich durch massive Subventionierung der heimischen Pharmaindustrie, wie zugunsten von Biontech und Co., der „Wirtschaftsstandort“ Deutschland verteidigt wird – egal wieviel dies an Menschenleben und Steuermilliarden kostet.
Über die Patentaufhebung hinaus braucht es neben vielem mehr eine sofortige Streichung von Schulden für den globalen Süden, eine umfassende Umverteilung und eine ausgleichende Umstrukturierung der globalen Wirtschaftsbeziehungen, um den bislang durch den globalen Norden dominierten Ländern eine soziale und bedarfsorientierte Gesundheitspolitik zu ermöglichen. Zudem dürfen Reisebeschränkungen im Zuge von Eindämmungsmaßnahmen gerade nicht zur noch stärkeren Erschwerung von Fluchtbewegungen und Migration führen. Grenzenlose Bewegungsfreiheit muss sich orientieren an denen, für die sie am wichtigsten ist, also für alle Menschen, die migrieren, um sich ein sicheres und besseres Leben ermöglichen zu können. – Fluchtwege freihalten!
Aufarbeiten und Erinnern – „leave no one behind“ reloaded
Aus emanzipatorischer Perspektive kann die Pandemie als ein gesellschaftliches Krisengeschehen betrachtet werden, das von vielfältigen Herrschaftsverhältnissen hervorgebracht, strukturiert und weitergetrieben wird. In der Pandemie zeigt sich einmal mehr, dass Leid, Krankheit und Tod in Kauf genommen werden, um Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeit eines guten Lebens für alle in Sicherheit, Selbstbestimmung und Solidarität wird durch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse verhindert. Aus unserer Sicht sollte linke Pandemiepolitik in den ignoranten und menschenverachtenden gesellschaftlichen Umgang mit dem Leid kritisch intervenieren, indem die Corona-Jahre kritisch aufgearbeitet werden und eine Art pandemiepolitische Erinnerungsarbeit angestoßen wird. Die vielen, vielen Menschen, die einsam und qualvoll auf Intensivstationen oder anderswo erstickt sind, sind zum großen Teil Opfer einer falschen oder unterbliebenen Pandemiepolitik. Zu berücksichtigen und nicht zu vergessen sind auch das Leid, die Trauer, die Wut und die Traumata all derjenigen, die nicht begleiten und nicht Abschied nehmen konnten. Wir können an dieser Stelle nur erste Gedanken dazu äußern, wie sich eine emanzipatorische Linke dazu ins Verhältnis setzen könnte.
Ein Zugang wäre die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass die vielen Toten verdrängt oder allenfalls schulterzuckend zur Kenntnis genommen werden. Wie schaffen es diejenigen, die sich als die Normalen oder Teil der Mehrheit verstehen, die endlich wieder ohne Rücksicht und ohne Solidarität ihre Freiheit genießen will, ihre eigene Verletzbarkeit auszublenden? Wie schaffen die Leute es, sich von den Kranken und Toten so abzuspalten, dass das Risiko selbst eine*r der Kranken und Toten zu werden, aus dem Blick gerät oder belanglos wird? Das Sterben ruft in dieser Gesellschaft – gerade im Zustand der unsäglichen „Normalität“ – offenbar nur wenig Interesse und wenig Trauer hervor – gerade dann, wenn diskursive und psychische Naturalisierungs- und Otheringstrategien greifen. Die, die sterben, hatten „Vorerkrankungen“ oder waren schon alt. Ihr Tod erscheint so quasi als ein nur etwas vorweggenommener „natürlicher“ Tod. Sie zu betrauern wird dann – falls es überhaupt stattfindet – zur Privatangelegenheit. Die, die sich noch immer schützen müssen oder wollen, sind chronisch krank, haben eine Behinderung oder ein psychisches Problem. Sie sind in dieser Logik also nicht „normal“ und wegen denen braucht sich die normale Mehrheit offenbar nicht länger einschränken. Die, die Schutz brauchen oder wollen, gelten als die Anderen, sie können z.B. in Pflegeeinrichtungen eingeschlossen werden, damit die, die sich als jung, gesund und normal imaginieren, feiern und arbeiten gehen können. Wenn der Tod naturalisiert und die Alten, Be-hinderten, Kranken und Toten zu den Anderen gemacht werden, haben die Normalen kein Problem.
Eine gesellschaftliche Erinnerungs- und Trauerarbeit in Bezug auf die Pandemietoten müsste sich kritisch und reflexiv u.a. mit diesen Naturalisierungs- und Otheringstrategien auseinandersetzen. So könnte sie dazu beitragen, dass die Bereitschaft wächst in einer nächsten Corona-Welle oder in einer nächsten Pandemie eine solidarische Eindämmung zu verfolgen und ein ernsthaftes Bemühen anstoßen, Todesfälle zu vermeiden. Es geht sozusagen um ein Rückholen der Toten aus dem diskursiven Feld der Ignoranz und des Verdrängens in ein Feld der Trauer und des Gedenkens. Pandemiepolitische Erinnerungsarbeit verweist dabei zugleich auf die grundsätzlich ausstehende gesellschaftliche Transformation, die als „Care-Revolution“ (etwa Gabriele Winker) beschrieben worden ist: Notwendig sind neue Sorgebeziehungen, neue Selbst-, Welt- und Anderenverhältnisse jenseits des „Souveränitätsphantasmas“ (Gundula Ludwig), neue „Beziehungsweisen“ (Bini Adamczak), jenseits der „Politik der Starken“ (Yener Bayramoğlu / María do Mar Castro Varela).[6] „Freiheit“ jenseits des vermeintlich autonomen Subjekts zu denken hieße wechselseitige Verbundenheit, Verwiesenheit und Abhängigkeit, das heißt die grundlegende Relationalität menschlicher Sozialität und Subjektivität anzuerkennen und zu bejahen und von hier aus neu anzusetzen.
Pandemiepolitische Forderungen für 2023 und darüber hinaus
Da die grundlegende Umstellung der Pandemiepolitik aktuell kaum durchzusetzen ist, müssen sich Beiträge für eine solidarische Pandemiepolitik darauf konzentrieren, wenigstens die größten Gefahren und Risiken zu mindern und die Menschen beim Selbstschutz und der Selbstorganisation unterstützen. Folgende Forderungen sind weiterhin sinnvoll:
- Umfangreiche Schaffung pandemiegerechter Orte echter Begegnung zwischen den Menschen in Präsenz. Insbesondere die Sommermonate bieten sich an, auf öffentlichen Plätzen, in Parks, Gärten und auf autobefreiten Straßen Räume für Begegnung und Austausch, für kostenlose kulturelle Aktivitäten und für gemeinschaftlichen Sport zu schaffen. Auch Schulunterricht kann im Freien stattfinden. Überdachte, aber nach draußen offene Orte wie Freiluftsporthallen (überdacht, aber offen) sind zu schaffen. Konzerte, Treffen, Parties, Kaffeetrinken, Essengehen und noch viel mehr können überdacht oft auch draußen stattfinden!
- Maskenpflicht in Innenräumen: im Einzelhandel, im ÖPNV, in öffentlichen Einrichtungen, medizinischen und pflegerischen Einrichtungen (dort vor allem für Besucher*innen), Schulen, Hochschulen und Betrieben. Es braucht die Verfügbarkeit und kostenlose Verteilung von FFP2-Masken und anderem Schutzmaterial in öffentlichen Einrichtungen, Bildungseinrichtungen, Supermärkten, Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln, Betrieben und Büros.
- Überall verfügbare kostenlose PCR-Tests und obligatorisches regelmäßiges Testen für alle. Verbindliche Testregelungen überall dort, wo Menschen in Innenräumen zusammenkommen.
- Leistungsstarke Abluft- und Luftfilteranlagen in Kitas, Schulen, Hochschulen, öffentlichen Gebäuden sowie in Betrieben und Büros sowie in Kneipen, Sporthallen, Clubs, Museen etc. (staatlich oder durch Arbeitgeber*innen finanziert)
- Weiterlaufen der Impfkampagne samt umfassender Infrastruktur als ständiges Angebot, aufsuchend und niedrigschwellig.
- Aufklärung über und schnelle Verfügbarkeit von Medikamenten wie Mulnoripavir, besonders für stark vulnerable Patient*innen (Behandlung mit diesem Medikament muss bis zum 5. Tag der Infektion beginnen), so dass die Corona-Sterblichkeit verringert wird.
- Mehrsprachige umfassende Verfügbarkeit von Informationen über alle Pandemie-Themen.
- Erleichterung der Anerkennung einer Long Covid-Erkrankung als Berufsunfall, Aufklärung unter Ärzt*innen zur Erleichterung von Diagnosen.
- Schaffen von umfangreichen kostenlosen Reha-Angeboten, damit Menschen mit Long Covid wieder gesund und nicht sozial benachteiligt werden.
- Ausbau und Verstetigung der medizinischen, pharmazeutischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zu Covid und Long-Covid.
- Dauerhafte Vereinfachungen von Krankmeldung, Recht auf Homeoffice, vereinfachte Anträge auf Leistungen nach dem SGB II.
- Förder- und Entlastungsmaßnahmen für Familien bzw. Menschen mit Kinder- und Pflegeverantwortung zum Ausgleich der pandemiebedingten Mehrfachbelastungen.
- Menschenwürdiger Wohnraum für alle, der pandemiebedingtes Abstandhalten und notwendige Quarantänephasen überhaupt möglich macht.
- Zugang zu digitalen Kommunikationsmöglichkeiten (Internetzugang und Endgeräte) für alle und Angebote, den Umgang damit zu erlernen.
- Hilfen und Garantien für kleine Betriebe und Selbstständige, sowohl für Zeiten der maßnahmenbedingten Schließung als auch für Zeiten der inzidenzbedingt niedrigen Nachfrage.
- Befreiung (nicht nur „Stundung“!) von Mietzahlungen für die von pandemiebedingter Schließung betroffenen Betriebe und Kultureinrichtungen und für prekäre Selbstständige sowie alle Armen.
- Weiterentwicklung digitaler Unterrichtsmethoden, alters- und zielgruppengerecht in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung.
- Ausbau, Aufwertung und solidarische sowie demokratische Umgestaltung des Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereichs!
- Pandemiepolitische Bildungs- und Erinnerungsarbeit in Schulen, Hochschulen, Gewerkschaften und in sozialen Bewegungen gegen den Einfluss von „Querdenken“ und FDP & Co und für die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft.
- Bezahlen sollen all dies die Reichen! Nach dem Motto: Wer hat, der gibt! Also her mit einer Corona-Steuer!
Solidarisch gegen Covid! – Antipandemische Aktion Bremen
Kontakt: soli-gegen-cov-hb@posteo.de
[1] Darum fehlen auch noch an einigen Stellen Verweise und Belege, die wir aber noch nachtragen wollen.
[2]https://www.fr.de/wissen/corona-studie-neu-usa-reinfektion-sterberisiko-erhoeht-covid-19-gesundheit-91909824.html [Zugriff 22.11.2022]
[3] Wie dankenswerterweise vielmals geschehen, etwa hier: https://coronamonitor.noblogs.org/
[4] Auf die Effekte der nicht-solidarisch ausgerichteten staatlichen Eindämmungsmaßnahmen, wie die massive Zunahme häuslicher Gewalt gegen FLINTA während der Lockdowns oder die Forcierung von Verarmung, können wir hier nicht genauer eingehen, aber genau gegenüber solchen Effekte wäre von vornherein Vorbeuge zu leisten.
[5] Die Strategie wenigstens so lang einzudämmen, bis ein Großteil der Bevölkerung durch Impfung zumindest etwas besser geschützt ist als ohne, ist der Weg, den Neuseeland und Australien relativ erfolgreich gegangen sind – freilich ohne eine umfassende solidarische Orientierung an den Ärmsten und Verletzlichsten. Weder in diesen beiden Ländern – ebenso wenig wie in China – war dabei zwei Jahre lang durchgängig Lockdown, sondern immer nur regional und/oder temporär begrenzt. Die problematische Abschottung dieser Länder nach außen hätte womöglich im Kontext einer globalen Koordination der Eindämmung vermieden werden können, war aber letztlich auch stark verknüpft mit den hegemonialen repressiven Migrationsregimen, die ohnehin globale Bewegungsfreiheit für die meisten stets verhindern.
[6] „Demokratisch“ hieße hier grundsätzlich, dass das Wissen und die Ideen von Vertreter*innen vulnerabler Gruppen sowie auch von Vertreter*innen der von Maßnahmen am stärksten Betroffenen in Entwicklungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse substanziell einbezogen werden (etwa Be_hinderten-Beiräte, Gleichstellungsbeauftragte, Vertreter*innen von POC und Migrant*innen, Betriebsräte und Gewerkschaften, Schüler*innenvertretungen u.v.m.).
[7] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/covid-19-habeck-impfstoffe-patente
[8] Gabriele Winker (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript. Gundula Ludwig (2022): Souveränitätsphantasma und Normalitätsfetisch: Politik in Zeiten der Corona-Krise. Soziopolis: Gesellschaft beobachten. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-78901-3
[9]Bini Adamczak (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp.
[10]Yener Bayramoğlu & María do Mar Castro Varela (2021): Post/Pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld: transcript.